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Herrenberger Tango Die Sache mit dem Akkordeonspieler
fing an einem Freitag im April an, an irgendeinem Freitag, und ob es
tatsächlich der dreizehnte war, wie viele Leute es im Nachhinein
meinten, lässt sich nun wirklich nicht mehr feststellen. Tatsache ist
jedenfalls, dass sich der Akkordeonspieler an einem Freitag Vormittag gegen
elf Uhr zum ersten Mal auf die lange Treppe zwischen Stiftskirche und
Marktplatz setzte, sein Instrument auspackte und zu spielen anfing. Der Akkordeonspieler war gerade in
einer ehemals herrschaftlichen, aber längst heruntergekommenen Villa am
Stadtrand von Herrenberg eingezogen. Er hieß Gustav, oder zumindest
nannte er sich so, und warum er jetzt ausgerechnet die verträumte
Kleinstadt am Schönbuchrand zu seinem Domizil gewählt hatte, wusste
niemand zu sagen, am wenigsten die Herrenberger selbst. Gustav hatte die
Sechzig lange überschritten, und sein faltiges Gesicht hatte
allmählich eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Instrument
angenommen. Er war ein großer Mann, groß und kräftig, was
man allerdings schnell übersah, weil er sich selten gerade hielt, so als
hätte das Gewicht seines Akkordeons ihm langsam aber sicher das
Rückgrat zusammengebogen. Es war selten, dass man ihn ohne seine
Instrument antraf; es gehörte zu ihm wie seine großen, leicht
abstehenden Ohren, die blassblauen Augen, die mächtigen, unentwirrbaren
Augenbrauen und die leicht auswärts gestülpten Lippen, die an einen
großen Karpfen erinnerten. Er verbrachte die meiste Zeit an der
frischen Luft, und seine Haut war braun wie bei einem Indianer, dabei aber
auch voller winziger Narben, Altersflecken und widerborstiger Haare, die
jeder Rasur trotzten. Das einzige Lebewesen, das Gustav dauerhaft an seiner
Seite duldete, war Cora, eine Hündin ungeklärter Provenienz, von
der die Nachbarn sich einig waren, dass sie von jeder Hunderasse die
schlechtesten Eigenschaften übernommen hatte: Sie war ein hässliches,
seltsam hochbeiniges Geschöpf mit undefininierbar gefärbtem
Zottelfell, dazu leicht irritierbar und in der Lage, eine halbe Stunde lang
ununterbrochen nervenzermürbend zu bellen, und wenn ihr etwas nicht
gefiel, schnappte sie zu. Cora, auch da hatte die Nachbarschaft zu einer
übereinstimmenden Beurteilung gefunden, passte hervorragend zu ihrem
Herrn. Sie waren bald ein gewohnter
Anblick, Gustav und Cora, wenn sie nebeneinander durch die Gassen und
über die Stiegen der Altstadt schlurften, der Hund an einer Leine, die
schon deutlich bessere Tage gesehen hatte und ihm nur pro Forma
überhaupt angelegt wurde, der Herr mit dem Akkordeon auf dem Buckel,
eine kalte Zigarre zwischen den Lippen und die Hände bis zu den Ellbogen
versenkt in den Taschen seines formlosen Overalls. Jeden Tag suchten sie sich
einen anderen Platz aus und ließen sich da häuslich nieder, und
Gustav wuchtete sich das Instrument vom Rücken, schnallte es sich um und
begann zu spielen. Wenn man zum ersten Mal
hörte, wie er spielte, mit halb offenem Mund und halb geschlossenen
Augen, konnte es wohl sein, dass einem das Herz weit wurde und die Kehle eng,
so süß, so sehnsüchtig und wunderbar war die Melodie, die er
seinem Instrument entlockte: Ein Tango, aus Argentinien über Paris um
die halbe Welt hierhergeweht. Man zog sein Taschentuch heraus, tupfte sich
verschämt über die Lider und holte vielleicht ein paar Münzen
aus der Tasche, bis man bemerkte, dass der Musiker weder eine Mütze noch
ein Körbchen, seinen leeren Instrumentenkoffer oder eine Blechdose
aufgestellt hatte. Er wollte kein Geld. Er wollte spielen. Bei der zweiten Begegnung war man
schon vorbereitet und freute sich auf den angenehmen Schauer, der einem
über die Seele lief, wenn man ihn hörte, und beim dritten Mal war
es irgendwie, als käme man nach Hause. Erst ganz allmählich stellte
man fest, dass der Akkordeonspieler immer das Gleiche spielte, immer
denselben argentinischen Tango eines längst vergessenen Komponisten, so
als könne er nichts anderes. Natürlich gab es kleine Variationen;
mal zog er das Tempo ein wenig an, mal konzentrierte er sich auf die
Bässe, und an besonderen Tagen verstieg er sich zu ausgefallenen
barocken Trillern und Verzierungen, aber im Grunde blieb es doch das gleiche
Stück, der Tango, der sich in seinem Instrument eingenistet hatte wie
ein Dämon in der Flasche und daraus hervorkroch, sobald der Verschluss
geöffnet wurde. Dabei war es
selbstverständlich eine besondere künstlerische Leistung, diesem
immer gleich Stück jedesmal wieder soviel Schmelz und Leidenschaft zu
verleihen, wie der Akkordeonspieler es tat, aber nach und nach fand sich in
der ganzen Stadt niemand mehr, der bereit gewesen wäre, diese Leistung
auch zu würdigen, im Gegenteil. Es mehrten sich die Stimmen, die
verlangten, den alten Gustav und sein Instrument zum Schweigen zu Bringen,
wenigstens stundenweise; Gastronomen fürchteten um die Stimmung in ihren
Biergärten, die der Tangomusik völlig schutzlos ausgeliefert waren,
Marktfrauen behaupteten, die unüberhörbare Melancholie der Musik
würde ihnen die Kunden vertreiben, und junge Mütter machten sich
Sorgen um die seelische Unversehrtheit ihrer Kinder, deren kleine Ohren ja
bekanntlich besonders empfänglich und empfindlich sind. Natürlich fehlte es nicht an
Versuchen, den Akkordeonspieler mit freundlichen Worten auf die
Unerwünschtheit seines Tuns hinzuweisen. Die Herrenberger sind als
freundlich und zuvorkommend bekannt, und immer wieder fand der eine oder
andere den Mut, die zähnefletschende Cora zur Seite zu schieben, sich
über den musizierenden Gustav zu beugen und ihm Worte ins Ohr zu raunen,
mahnende Worte, bittende, verständnisvolle, gelegentlich vielleicht
sogar drohende Worte. Allein, Gustav ließ sich nicht erschüttern
und spielte weiter. Vielleicht war er ja taub, was in Anbetracht seiner
Lebensumstände niemanden verwundert hätte. In einer etwas
unglücklichen Samstagnacht fand sich schließlich eine Gruppe
Jugendlicher zusammen, umringte den Akkordeonspieler, bemächtigte sich
seines Instrumentes und warf es, ohne auf das wütende Gekläff Coras
zu achten, unter lautem Triumphgeheul in den Marktbrunnen von 1681. Gustav
musste die Meute hilflos gewähren lassen. Als sie sich allerdings
schließlich verzogen, um ihren kulturhistorischen Sieg in einer nahegelegenen
Kneipe zu begießen, erwachte er aus seiner erzwungenen Lethargie und
krempelte sich die Hosen hoch. Seine unförmigen Beine leuchteten
weiß im Mondlicht, als er ächzend und stöhnend über den
Rand der Brunnenschale kletterte, ins Wasser stieg und schließlich das
Akkordeon herauswuchtete. Schon am nächsten Tag saß er wieder an
seinem Lieblingsplatz unterhalb der Stiftskirche und stimmte den Tango an,
mit laufender Nase und trauriger denn je. Niemand konnte überhören,
dass das unfreiwillige Bad im Brunnen dem Instrument nicht gutgetan
hatte. So kam es, dass sich
schließlich der Stadtrat mit dem Problem befasste, Tagesordnungspunkt
fünf: Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Abspielen des
immer gleichen Tango argentino seitens eines gewissen Gustav,
Akkordeonspieler, wohnhaft in Herrenberg. Keine der vertretenen politischen
Gruppierungen war von Gustavs Auftreten unberührt geblieben, auch wenn
die eine den Schwerpunkt mehr auf die Vernachlässigung heimischen
Liedgutes legte, die andere auf die zurückgehenden Gewerbesteuereinnahmen,
die dritte auf zu schließende Lücken des sozialen Netzes verwies,
die vierte auf die dem Vernehmen nach nicht ganz artgerechte Haltung des
Hundes Cora und die fünfte schließlich der Meinung Ausdruck
verlieh, beim Tango handele es sich um eine möglicherweise sexistisch
angehauchte Kunstform. Fraktionsübergreifend einig war man sich aber,
dass etwas getan werden müsse. „Wir sollten
beschließen“, so ließ sich Stadtrat X. vernehmen,
„dass das Musizieren auf öffentlichen Straßen und
Plätzen der Stadt unerwünscht und daher zu unterbinden ist.
Zuwiderhandlungen werden mit einer Geldstrafe geahndet, die der
Gehörlosenhilfe zugute kommt.“ Beifallheischend blickte er in die
Runde, aber der Applaus war nur dünn, verfügte doch der eine oder
andere der hier Versammelten selber über Flöte, Geige, Klavier oder
sogar Akkordeon und wollte die öffentliche Bespielung derselben nicht in
Bausch und Bogen verdammt wissen. Auch die zahlreich erschienenen Mitglieder
des Posaunenchors schüttelten kritisch die Köpfe und gaben zu
bedenken, dass eben jener Gustav, über dessen missliche
Tangoleidenschaft hier beraten wurde, sich in der kurzen Zeit seines hiesigen
Aufenthaltes als überaus großzügiger Förderer der Musik
hervorgetan und insbesondere ihrem Verein mehrere nennenswerte Geldspenden
übereignet habe. Der Oberbürgermeister erkannte schnell, dass eine
einfache Lösung, so wünschenswert sie auch sein mochte, in ihrem
Fall kaum zum Erfolg führen würde. „Weiß eigentlich
irgendjemand von Ihnen, was die Ursache von Gustavs – wie soll ich
sagen? Tangotismus? Wiederholungszwang? Dacapomanie? – von Gustavs
Eigenheit sein könnte?“, fragte er in die Runde, und verschiedene
Gerüchte, die schon seit langem in der Stadt kursierten, wagten den
Sprung ans Tageslicht: Gustav sei eigentlich ziemlich zurückgeblieben
und sein Akkordeonspiel eine Inselbegabung, wobei die Insel eben extrem klein
ausgefallen sei; er sei ein Komponist, der sich auf diese Weise für die
Verkennung seines musikalischen Genies räche; er sei ein skrupelloser
Wissenschaftler, der in einem Langzeitversuch die Widerstandskraft einer
Kleinstadtbevölkerung gegen monotone Dauerbeschallung teste. Am meisten
Zustimmung fand jedoch die Erklärung, die ein Nachwuchsreporter des
Gäuboten irgendwo aufgeschnappt haben wollte, aus ganz sicherer Quelle:
Gustav habe sich als junger Mann in Paris unsterblich in eine
wunderschöne Französin verliebt, deren Eltern die Beziehung jedoch
missbilligt hätten. Sie hätten sich nur heimlich treffen
können und in verrufenen Spelunken auf dem Montmartre die Nächte
beim Tango durchtanzt, und bei eben jenem Tango, den man ja zur Genüge
selbst kenne, habe das Mädchen dem jungen Gustav ihre Liebe gestanden.
Aber die Sache nahm kein gutes Ende: Der wütende Vater habe das
Liebespaar schließlich aufgespürt, Gustav zum Teufel gejagt und
die Tochter schleunigst mit einem zwielichtigen Geschäftspartner
verkuppelt. Von jenem Schlag habe Gustav sich nie erholt; von dem Gedanken
beseelt, mithilfe des Tangos die Erinnerung an diese einzige Geliebte wieder
heraufzubeschwören, sei er die letzten Jahrzehnte von Ort zu Ort geirrt
und habe dort sein Lied gespielt, nur um nach kurzer Zeit von aufgebrachten
Einwohnern wieder verjagt zu werden. Obwohl sich die angeblich sichere Quelle
nicht mehr herausfinden ließ, waren alle nur zu bereit, diese
Geschichte zu glauben: Sie war einfach zu traurig-schön, um nicht wahr
zu sein. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass man auch
einen traurig-schönen Tango nur begrenzt ertragen kann. Man beriet hin
und her, diskutierte, stritt, bis es schließlich von der Stiftskirche
Mitternacht schlug. In dem Augenblick meldete sich der zweite Hornist des
Posaunenchors zu Wort. „Hört, ich weiß,
was wir tun sollen!“, rief er aufgeregt. „Es ist nicht ganz
einfach, aber wir müssen es versuchen!“ Und so geschah es. Am folgenden Samstag,
pünktlich um 17.30 Uhr, nahm Gustav seinen Platz am Fuß des
Marktbrunnens ein (er spielte mittlerweile Samstags um diese Zeit immer am
Marktbrunnen) und packte sein Instrument aus. Kaum hatte er die ersten Takte
gespielt, da öffnete sich ein Fenster über dem Eiscafé
gegenüber. Ein junger Mann erschien an der Brüstung, winkte kurz zu
Gustav herunter und zog sich wieder in das dahinterliegende Zimmer
zurück, und dann hörte man plötzlich den vertrauten Tango in Stereo.
Gustav ließ sich nicht beirren, auch nicht, als bald darauf eine
kurzatmige Frau die Bronngasse hochschnaufte, vor der Apotheke ihr Akkordeon
auspackte und in den Tango einstimmte. Gleichzeitig stellte der Wirt des
Ratskellers einen Stuhl vor die Tür, damit der Akkordeonspieler, der
jetzt die Hirschgasse herunterkam, sich hinsetzen konnte. Unterhalb der
Stiftskirche hatten sich gleich zwei niedergelassen und griffen in die Tasten
ihrer nagelneuen Hohner-Instrumente, während sich in der Schuhgasse die
Quetschkommode einer örtlichen Politesse mit der Ziehharmonika des
Kollegen von der Kripo einen Wettstreit um die ausgefallenste
Tango-Interpretation lieferte. Gustav ließ endlich verwirrt sein
Instrument sinken. Der Tango war überall; er wehte von der Stiftkirche
herunter und schwang zwischen den alten Fachwerkhäusern hin und her,
sprudelte aus dem Marktbrunnen, federte über das Pflaster. Der Tango,
sein Tango. Gustav griff nach seinem Akkordeon, als müsse er sich daran
festhalten, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde er am
liebsten aufspringen und die flucht ergreifen. Aber gerade da kam eine Frau
auf ihn zu, nicht jung, nicht alt, mit einem feuerroten Kleid und einer Rose
im Haar. Sie strich der verblüfften Cora über den Kopf, nahm dann
Gustavs Hand und zog ihn auf die Füße. „Es ist Tangozeit“,
sagte sie. „Wollen wir tanzen?“ Gustav antwortete lange nicht,
dann nickte er langsam. Er legte der Frau vorsichtig eine Hand auf die
Hüfte und machte die ersten Schritte. ‚Der fällt uns noch über
die eigenen Füße‘, hatte der Oberbürgermeister vorher
befürchtet, aber da hatte er sich geirrt. Der alte Akkordeonspieler war
ein guter Tänzer, ein bisschen steif vielleicht, aber mit sicherem
Taktgefühl, und als sie die erste Runde gedreht hatten, schien er hundert
Jahre jünger geworden zu sein. Mittlerweile war der ganze Marktplatz
voll mit tanzenden Paaren, und als der Tango verklungen war und die Musiker
ein neues Stück anstimmten, einen Walzer, protestierte niemand dagegen
– auch Gustav nicht. Es wurde noch eine lange Nacht,
und es geschahen viele merkwürdige Dinge. Die Hündin Cora
ließ sich von wildfremden Leuten streicheln, die Wirte schenkten
Freibier aus und die diensteifrige Politesse übersah
großzügig die Autos, die im Halteverbot parkten, wenn nur ein
Akkordeonkoffer auf dem Rücksitz lag. Leute sprachen miteinander, die
sich schon seit Ewigkeiten nichts mehr zu sagen hatten; zerstrittene Paare
fanden beim Tango wieder zueinander, und als um Mitternacht der
Oberbürgermeister die Stiftskirchentreppe erklomm und von oben ein
Prosit auf alle Akkordeonspieler ausbrachte, gab es Beifall von allen
fünf Ratsfraktionen. Alle waren sich einig, dass es so eine Nacht noch
nicht gegeben hatte. Am nächsten Morgen war Gustav
verschwunden. Rasch wurden Suchtrupps aus Freiwilligen zusammengestellt, die
die ganz Gegend durchforsteten, aber von dem alten Akkordeonspieler gab es
keine Spur. Schließlich, nach einer Woche, kam eine Postkarte aus Paris
in der Stadtverwaltung an. Ein junges Paar war darauf, das sich am Fuß
des Eiffelturms küsste, und auf der Rückseite war ungelenk
geschrieben: Gruß Gustav. Die Herrenberger seufzten erleichtert: So war
also doch alles gut gegangen. Nur den Tango würden sie manchmal gern
wieder hören. ©Isabell Pfeiffer |
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