Home

Bücher

Texte

Termine

Vita

Kontakt

 

Texte

 

Willkommen auf der Homepage der Autorin Isabell Pfeiffer !

 

                                                                                            zurück

Herrenberger Tango

 

Die Sache mit dem Akkordeonspieler fing an einem Freitag im April an, an irgendeinem Freitag, und ob es tatsächlich der dreizehnte war, wie viele Leute es im Nachhinein meinten, lässt sich nun wirklich nicht mehr feststellen. Tatsache ist jedenfalls, dass sich der Akkordeonspieler an einem Freitag Vormittag gegen elf Uhr zum ersten Mal auf die lange Treppe zwischen Stiftskirche und Marktplatz setzte, sein Instrument auspackte und zu spielen anfing.

Der Akkordeonspieler war gerade in einer ehemals herrschaftlichen, aber längst heruntergekommenen Villa am Stadtrand von Herrenberg eingezogen. Er hieß Gustav, oder zumindest nannte er sich so, und warum er jetzt ausgerechnet die verträumte Kleinstadt am Schönbuchrand zu seinem Domizil gewählt hatte, wusste niemand zu sagen, am wenigsten die Herrenberger selbst. Gustav hatte die Sechzig lange überschritten, und sein faltiges Gesicht hatte allmählich eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Instrument angenommen. Er war ein großer Mann, groß und kräftig, was man allerdings schnell übersah, weil er sich selten gerade hielt, so als hätte das Gewicht seines Akkordeons ihm langsam aber sicher das Rückgrat zusammengebogen. Es war selten, dass man ihn ohne seine Instrument antraf; es gehörte zu ihm wie seine großen, leicht abstehenden Ohren, die blassblauen Augen, die mächtigen, unentwirrbaren Augenbrauen und die leicht auswärts gestülpten Lippen, die an einen großen Karpfen erinnerten. Er verbrachte die meiste Zeit an der frischen Luft, und seine Haut war braun wie bei einem Indianer, dabei aber auch voller winziger Narben, Alters­flecken und widerborstiger Haare, die jeder Rasur trotzten. Das einzige Lebewesen, das Gustav dauerhaft an seiner Seite duldete, war Cora, eine Hündin ungeklärter Provenienz, von der die Nachbarn sich einig waren, dass sie von jeder Hunderasse die schlechtesten Eigenschaften übernommen hatte: Sie war ein hässliches, seltsam hochbeiniges Geschöpf mit undefininierbar gefärbtem Zottelfell, dazu leicht irritierbar und in der Lage, eine halbe Stunde lang ununterbrochen nervenzermürbend zu bellen, und wenn ihr etwas nicht gefiel, schnappte sie zu. Cora, auch da hatte die Nachbarschaft zu einer übereinstimmenden Beurteilung gefunden, passte hervorragend zu ihrem Herrn.

Sie waren bald ein gewohnter Anblick, Gustav und Cora, wenn sie nebeneinander durch die Gassen und über die Stiegen der Altstadt schlurften, der Hund an einer Leine, die schon deutlich bessere Tage gesehen hatte und ihm nur pro Forma überhaupt angelegt wurde, der Herr mit dem Akkordeon auf dem Buckel, eine kalte Zigarre zwischen den Lippen und die Hände bis zu den Ellbogen versenkt in den Taschen seines formlosen Overalls. Jeden Tag suchten sie sich einen anderen Platz aus und ließen sich da häuslich nieder, und Gustav wuchtete sich das Instrument vom Rücken, schnallte es sich um und begann zu spielen. 

Wenn man zum ersten Mal hörte, wie er spielte, mit halb offenem Mund und halb geschlossenen Augen, konnte es wohl sein, dass einem das Herz weit wurde und die Kehle eng, so süß, so sehnsüchtig und wunderbar war die Melodie, die er seinem Instrument entlockte: Ein Tango, aus Argentinien über Paris um die halbe Welt hierhergeweht. Man zog sein Taschentuch heraus, tupfte sich verschämt über die Lider und holte vielleicht ein paar Münzen aus der Tasche, bis man bemerkte, dass der Musiker weder eine Mütze noch ein Körbchen, seinen leeren Instrumentenkoffer oder eine Blechdose aufgestellt hatte. Er wollte kein Geld. Er wollte spielen.

Bei der zweiten Begegnung war man schon vorbereitet und freute sich auf den angenehmen Schauer, der einem über die Seele lief, wenn man ihn hörte, und beim dritten Mal war es irgendwie, als käme man nach Hause. Erst ganz allmählich stellte man fest, dass der Akkordeonspieler immer das Gleiche spielte, immer denselben argentinischen Tango eines längst vergessenen Komponisten, so als könne er nichts anderes. Natürlich gab es kleine Variationen; mal zog er das Tempo ein wenig an, mal konzentrierte er sich auf die Bässe, und an besonderen Tagen verstieg er sich zu ausgefallenen barocken Trillern und Verzierungen, aber im Grunde blieb es doch das gleiche Stück, der Tango, der sich in seinem Instrument eingenistet hatte wie ein Dämon in der Flasche und daraus hervorkroch, sobald der Verschluss geöffnet wurde.

Dabei war es selbstverständlich eine besondere künstlerische Leistung, diesem immer gleich Stück jedesmal wieder soviel Schmelz und Leidenschaft zu verleihen, wie der Akkordeonspieler es tat, aber nach und nach fand sich in der ganzen Stadt niemand mehr, der bereit gewesen wäre, diese Leistung auch zu würdigen, im Gegenteil. Es mehrten sich die Stimmen, die verlangten, den alten Gustav und sein Instrument zum Schweigen zu Bringen, wenigstens stundenweise; Gastronomen fürchteten um die Stimmung in ihren Biergärten, die der Tangomusik völlig schutzlos ausgeliefert waren, Marktfrauen behaupteten, die unüberhörbare Melancholie der Musik würde ihnen die Kunden vertreiben, und junge Mütter machten sich Sorgen um die seelische Unversehrtheit ihrer Kinder, deren kleine Ohren ja bekanntlich besonders empfänglich und empfindlich sind.

Natürlich fehlte es nicht an Versuchen, den Akkordeonspieler mit freundlichen Worten auf die Unerwünschtheit seines Tuns hinzuweisen. Die Herrenberger sind als freundlich und zuvorkommend bekannt, und immer wieder fand der eine oder andere den Mut, die zähnefletschende Cora zur Seite zu schieben, sich über den musizierenden Gustav zu beugen und ihm Worte ins Ohr zu raunen, mahnende Worte, bittende, verständnisvolle, gelegentlich vielleicht sogar drohende Worte. Allein, Gustav ließ sich nicht erschüttern und spielte weiter. Vielleicht war er ja taub, was in Anbetracht seiner Lebensumstände niemanden verwundert hätte. In einer etwas unglücklichen Samstagnacht fand sich schließlich eine Gruppe Jugendlicher zusammen, umringte den Akkordeonspieler, bemächtigte sich seines Instrumentes und warf es, ohne auf das wütende Gekläff Coras zu achten, unter lautem Triumphgeheul in den Marktbrunnen von 1681. Gustav musste die Meute hilflos gewähren lassen. Als sie sich allerdings schließlich verzogen, um ihren kulturhistorischen Sieg in einer nahegelegenen Kneipe zu begießen, erwachte er aus seiner erzwungenen Lethargie und krempelte sich die Hosen hoch. Seine unförmigen Beine leuchteten weiß im Mondlicht, als er ächzend und stöhnend über den Rand der Brunnenschale kletterte, ins Wasser stieg und schließlich das Akkordeon herauswuchtete. Schon am nächsten Tag saß er wieder an seinem Lieblingsplatz unterhalb der Stiftskirche und stimmte den Tango an, mit laufender Nase und trauriger denn je. Niemand konnte überhören, dass das unfreiwillige Bad im Brunnen dem Instrument nicht gutgetan hatte. 

So kam es, dass sich schließlich der Stadtrat mit dem Problem befasste, Tages­ordnungs­punkt fünf: Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Abspielen des immer gleichen Tango argentino seitens eines gewissen Gustav, Akkordeonspieler, wohnhaft in Herrenberg. Keine der vertretenen politischen Gruppierungen war von Gustavs Auftreten unberührt geblieben, auch wenn die eine den Schwerpunkt mehr auf die Vernachlässigung heimischen Liedgutes legte, die andere auf die zurückgehenden Gewerbesteuereinnahmen, die dritte auf zu schließende Lücken des sozialen Netzes verwies, die vierte auf die dem Vernehmen nach nicht ganz artgerechte Haltung des Hundes Cora und die fünfte schließlich der Meinung Ausdruck verlieh, beim Tango handele es sich um eine möglicherweise sexistisch angehauchte Kunstform. Fraktionsübergreifend einig war man sich aber, dass etwas getan werden müsse.

„Wir sollten beschließen“, so ließ sich Stadtrat X. vernehmen, „dass das Musizieren auf öffentlichen Straßen und Plätzen der Stadt unerwünscht und daher zu unterbinden ist. Zuwiderhandlungen werden mit einer Geldstrafe geahndet, die der Gehörlosenhilfe zugute kommt.“ Beifallheischend blickte er in die Runde, aber der Applaus war nur dünn, verfügte doch der eine oder andere der hier Versammelten selber über Flöte, Geige, Klavier oder sogar Akkordeon und wollte die öffentliche Bespielung derselben nicht in Bausch und Bogen verdammt wissen. Auch die zahlreich erschienenen Mitglieder des Posaunenchors schüttelten kritisch die Köpfe und gaben zu bedenken, dass eben jener Gustav, über dessen missliche Tangoleidenschaft hier beraten wurde, sich in der kurzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes als überaus großzügiger Förderer der Musik hervorgetan und insbesondere ihrem Verein mehrere nennenswerte Geldspenden übereignet habe. Der Oberbürgermeister erkannte schnell, dass eine einfache Lösung, so wünschenswert sie auch sein mochte, in ihrem Fall kaum zum Erfolg führen würde.

„Weiß eigentlich irgendjemand von Ihnen, was die Ursache von Gustavs – wie soll ich sagen? Tangotismus? Wiederholungszwang? Dacapomanie? – von Gustavs Eigenheit sein könnte?“, fragte er in die Runde, und verschiedene Gerüchte, die schon seit langem in der Stadt kursierten, wagten den Sprung ans Tageslicht: Gustav sei eigentlich ziemlich zurückgeblieben und sein Akkordeonspiel eine Inselbegabung, wobei die Insel eben extrem klein ausgefallen sei; er sei ein Komponist, der sich auf diese Weise für die Verkennung seines musikalischen Genies räche; er sei ein skrupelloser Wissenschaftler, der in einem Langzeitversuch die Widerstandskraft einer Kleinstadtbevölkerung gegen monotone Dauerbeschallung teste. Am meisten Zustimmung fand jedoch die Erklärung, die ein Nachwuchsreporter des Gäuboten irgendwo aufgeschnappt haben wollte, aus ganz sicherer Quelle: Gustav habe sich als junger Mann in Paris unsterblich in eine wunderschöne Französin verliebt, deren Eltern die Beziehung jedoch missbilligt hätten. Sie hätten sich nur heimlich treffen können und in verrufenen Spelunken auf dem Montmartre die Nächte beim Tango durchtanzt, und bei eben jenem Tango, den man ja zur Genüge selbst kenne, habe das Mädchen dem jungen Gustav ihre Liebe gestanden. Aber die Sache nahm kein gutes Ende: Der wütende Vater habe das Liebespaar schließlich aufgespürt, Gustav zum Teufel gejagt und die Tochter schleunigst mit einem zwielichtigen Geschäftspartner verkuppelt. Von jenem Schlag habe Gustav sich nie erholt; von dem Gedanken beseelt, mithilfe des Tangos die Erinnerung an diese einzige Geliebte wieder heraufzubeschwören, sei er die letzten Jahrzehnte von Ort zu Ort geirrt und habe dort sein Lied gespielt, nur um nach kurzer Zeit von aufgebrachten Einwohnern wieder verjagt zu werden. Obwohl sich die angeblich sichere Quelle nicht mehr herausfinden ließ, waren alle nur zu bereit, diese Geschichte zu glauben: Sie war einfach zu traurig-schön, um nicht wahr zu sein. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass man auch einen traurig-schönen Tango nur begrenzt ertragen kann. Man beriet hin und her, diskutierte, stritt, bis es schließlich von der Stiftskirche Mitternacht schlug. In dem Augenblick meldete sich der zweite Hornist des Posaunenchors zu Wort.

„Hört, ich weiß, was wir tun sollen!“, rief er aufgeregt. „Es ist nicht ganz einfach, aber wir müssen es versuchen!“ Und so geschah es.

 

Am folgenden Samstag, pünktlich um 17.30 Uhr, nahm Gustav seinen Platz am Fuß des Marktbrunnens ein (er spielte mittlerweile Samstags um diese Zeit immer am Marktbrunnen) und packte sein Instrument aus. Kaum hatte er die ersten Takte gespielt, da öffnete sich ein Fenster über dem Eiscafé gegenüber. Ein junger Mann erschien an der Brüstung, winkte kurz zu Gustav herunter und zog sich wieder in das dahinterliegende Zimmer zurück, und dann hörte man plötzlich den vertrauten Tango in Stereo. Gustav ließ sich nicht beirren, auch nicht, als bald darauf eine kurzatmige Frau die Bronngasse hochschnaufte, vor der Apotheke ihr Akkordeon auspackte und in den Tango einstimmte. Gleichzeitig stellte der Wirt des Ratskellers einen Stuhl vor die Tür, damit der Akkordeonspieler, der jetzt die Hirschgasse herunterkam, sich hinsetzen konnte. Unterhalb der Stiftskirche hatten sich gleich zwei niedergelassen und griffen in die Tasten ihrer nagelneuen Hohner-Instrumente, während sich in der Schuhgasse die Quetschkommode einer örtlichen Politesse mit der Ziehharmonika des Kollegen von der Kripo einen Wettstreit um die ausgefallenste Tango-Interpretation lieferte. Gustav ließ endlich verwirrt sein Instrument sinken. Der Tango war überall; er wehte von der Stiftkirche herunter und schwang zwischen den alten Fachwerkhäusern hin und her, sprudelte aus dem Marktbrunnen, federte über das Pflaster. Der Tango, sein Tango. Gustav griff nach seinem Akkordeon, als müsse er sich daran festhalten, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde er am liebsten aufspringen und die flucht ergreifen. Aber gerade da kam eine Frau auf ihn zu, nicht jung, nicht alt, mit einem feuerroten Kleid und einer Rose im Haar. Sie strich der verblüfften Cora über den Kopf, nahm dann Gustavs Hand und zog ihn auf die Füße.

„Es ist Tangozeit“, sagte sie. „Wollen wir tanzen?“ Gustav antwortete lange nicht, dann nickte er langsam. Er legte der Frau vorsichtig eine Hand auf die Hüfte und machte die ersten Schritte. ‚Der fällt uns noch über die eigenen Füße‘, hatte der Oberbürgermeister vorher befürchtet, aber da hatte er sich geirrt. Der alte Akkordeonspieler war ein guter Tänzer, ein bisschen steif vielleicht, aber mit sicherem Taktgefühl, und als sie die erste Runde gedreht hatten, schien er hundert Jahre jünger geworden zu sein. Mittlerweile war der ganze Marktplatz voll mit tanzenden Paaren, und als der Tango verklungen war und die Musiker ein neues Stück anstimmten, einen Walzer, protestierte niemand dagegen – auch Gustav nicht.

Es wurde noch eine lange Nacht, und es geschahen viele merkwürdige Dinge. Die Hündin Cora ließ sich von wildfremden Leuten streicheln, die Wirte schenkten Freibier aus und die diensteifrige Politesse übersah großzügig die Autos, die im Halteverbot parkten, wenn nur ein Akkordeonkoffer auf dem Rücksitz lag. Leute sprachen miteinander, die sich schon seit Ewigkeiten nichts mehr zu sagen hatten; zerstrittene Paare fanden beim Tango wieder zueinander, und als um Mitternacht der Oberbürgermeister die Stiftskirchentreppe erklomm und von oben ein Prosit auf alle Akkordeonspieler ausbrachte, gab es Beifall von allen fünf Ratsfraktionen. Alle waren sich einig, dass es so eine Nacht noch nicht gegeben hatte.

Am nächsten Morgen war Gustav verschwunden. Rasch wurden Suchtrupps aus Freiwilligen zusammengestellt, die die ganz Gegend durchforsteten, aber von dem alten Akkordeonspieler gab es keine Spur. Schließlich, nach einer Woche, kam eine Postkarte aus Paris in der Stadtverwaltung an. Ein junges Paar war darauf, das sich am Fuß des Eiffelturms küsste, und auf der Rückseite war ungelenk geschrieben: Gruß Gustav. Die Herrenberger seufzten erleichtert: So war also doch alles gut gegangen. Nur den Tango würden sie manchmal gern wieder hören.

 

©Isabell Pfeiffer

 

                                                                                            zurück