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Willkommen auf der Homepage der Autorin Isabell Pfeiffer !

 

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 Der Posaunenchor

 

Er erwachte wie immer in dieser Jahreszeit noch vor dem Morgengrauen, und sein erster Gedanke, wie an jedem Morgen in diesen letzten Monaten, ging zurück an sie. Noch hatte er den Faden nicht verloren, die Stunden, die seitdem vergangen waren, hielt sich daran fest. Gut ein halbes Jahr war Maria jetzt tot, 193 Tage, 193 Nächte. Nie hätte er gedacht, dass er derjenige sein würde, der einmal übrigblieb, wo sie doch sechs Jahre jünger gewesen war als er und immer so gesund. „Herzinfarkt“, hatte ihm der Hausarzt voller Mitgefühl erklärt und dabei seine zitternde Hand gehalten. „Es ist ganz schnell gegangen. Glauben Sie mir, sie wird kaum etwas davon gespürt haben.“ Dass ausgerechnet ihr Herz, ihr großes Herz, sie im Stich gelassen hatte, erschien ihm widersinnig, und in seine Trauer mischte sich manchmal ein Gefühl der Empörung, dass sie ihn einfach so allein gelassen hatte. Aber es wäre ja nicht für lange, tröstete er sich. Und ganz allein war er schließlich auch nicht. Da waren die Kinder, zu denen er nach langem Sträuben vor sechs Wochen umgezogen war, die Enkel.

Nach langem Sträuben, ja. Denn eigentlich hatte er zu Hause bleiben wollen, in der kleinen Stadt im Ruhrgebiet, wo er bis auf wenige Kriegsjahre sein ganzes Leben verbracht hatte; wo seine ersten Erinnerungen wohnten und seine letzten, die schönsten und die schrecklichsten. Aber irgendwann hatte er gemerkt, dass es einfach nicht mehr ging. Die Wohnung war zu groß für ihn allein, und das Einkaufen und Saubermachen fiel ihm so furchtbar schwer mit seiner Arthrose, besonders jetzt im Winter, auch wenn die Nachbarin ihm so Manches abnahm. Und die Kinder hatten so gedrängt, dass er ihnen schließlich nichts mehr entgegensetzen konnte. Natürlich, sie machten sich Sorgen um ihn, sie hatten doch das große Haus in Süddeutschland, und er bräuchte sich um nichts mehr zu kümmern und wäre nicht mehr allein. Eine schlechte Zeit zum Umziehen, hatte er sich noch gedacht, wenn der Herbst zu Ende geht und die Tage so furchtbar kurz sind und die Natur so traurig. Aber sie hatten ihm ein schönes Zimmer gegeben, mit Blick nach Osten, so dass die Morgensonne, wenn sie denn irgendwann aufging, zu ihm hereinschien, wie er es immer geliebt hatte. Und nur ein paar Hundert Meter entfernt war schon der Waldrand, an dem er abends die Rehe beobachten konnte, die sich auf der Suche nach Futter auf die große Streuobstwiese hinauswagten. Nur manchmal wünschte er sich, er würde einmal wieder die Frachtschiffe nachts auf dem Rhein tuten hören oder das Aufflammen des winterlichen Abendhimmels sehen, wenn sie bei Thyssen den Abstich machten. 

Sein Blick blieb an dem Feldstecher hängen, der auf dem Nachtschränkchen stand. „Ein richtiges Zeiss-Gerät, damit du die Rehe besser beobachten kannst“, hatte sein Sohn stolz gesagt, als er ihn ausgepackt hatte, gestern, an seinem ersten Heiligabend seit sechsundvierzig Jahren ohne sie. Insgeheim hatte er sich gefürchtet vor diesem Tag, der dann doch so ohne große Erschütterung vergangen war – vielleicht, weil sie Weihnachten immer zu Hause verbracht hatten, nie hier bei den Kindern. „Lass den Kindern mal ihr eigenes Fest“, hatte Maria immer gesagt. „Wir machen es uns hier gemütlich, wir zwei.“ Vorsichtig schwang er die Beine aus dem Bett und griff nach seinem Morgenmantel. Es wurde langsam hell; er würde das Fenster öffnen und das Glas ausprobieren.

Oben, an der kleinen Straße am Waldrand, entdeckte er eine unerwartete Bewegung, und er stutzte und stellte das Fernglas nach. Dort standen mehrere Autos, aus denen gut ein Dutzend Leute geschäftig irgendetwas ausluden. Sie liefen hin und her, gestikulierten, hantierten mit großen Kästen. Verständnislos zuerst beobachtete er dieses Treiben, bis ein vereinzelter Sonnenstrahl es plötzlich golden aufblinken ließ von poliertem Metall, von Trompeten, Hörnern, Posaunen. Und schon stellten die Leute, Männer wohl hauptsächlich, sich im Halbkreis auf und setzten ihre Instrumente an. „Wachet auf, ruft uns die Stimme ...“ Es war dieses Lied, was sie da spielten am Weihnachtsmorgen, das Lied, das er selbst so oft gespielt hatte! Sein altes Herz begann wild zu klopfen, und er wartete auf die Stelle, wo sich die Oberstimme löste, diese Oberstimme, die er selbst immer übernommen hatte mit seiner Posaune, er selbst oder der kleine Stinnes, der jetzt schon lange unter der Erde war. „Pass bloß auf, Jung, du mit deiner Trompete von Jericho“, hörte er seinen Vater noch, wie er nicht ohne Stolz spottete, wenn der halbwüchsige Sohn damals in der Küche geübt hatte. „Dass du uns die Anrichte nicht umschmeißt! Hörste nicht, wie die Gläser schon klimpern?“ Der Vater, der am Palmsonntag die geweihten Zweige dem obligaten Führerbildnis an der Wand hinters Ohr steckte und später aus Russland nicht zurückgekommen war, während er, Friedrich Schmitt der Jüngere, in der Christmette die Oberstimme spielte ...

Das alte Instrument hatte den Krieg nicht überstanden, wie so vieles. Aber das neue, das mittlerweile eigentlich auch schon alt war und das er jahrelang nicht mehr in den Händen gehabt hatte, lag gut verpackt in seinem schwarzen Koffer hier unten im Kleiderschrank. Und jetzt kam sie nicht, die Oberstimme, kam einfach nicht, die ganze erste Strophe lang nicht! Aber das Lied ist ja lang, sie werden ja wohl nicht nur die erste Strophe spielen, nicht mal hier, wo sie alle evangelisch sind. Er setzt den Feldstecher ab, hastet zu seinem Schrank, so schnell die alten Knie erlauben, holt die Posaune heraus, spürt ihre vertraute Kühle in den Händen, an den Lippen. Und schon ist die zweite Strophe halb vorbei, und immer noch fehlt die Oberstimme, wahrscheinlich kennt keiner sie hier, wo man das Tuten der Rheinschiffe nicht hören kann, lass sie doch auch die dritte noch spielen ... Da kommt wirklich die dritte Stophe, und er setzt das Instrument an die zitternden Lippen, spielt laut die vertrauten Töne ...

Es dauerte ein paar Takte, bis seine Ohren den grausigen Missklang realisierten, den er erzeugt hatte, und bestürzt ließ er das Instrument sinken. Die Oberstimme war es doch gewesen, wie er sie immer gespielt hatte, jahrelang gespielt hatte, er kannte sie doch genau, jeden Ton, und trotzdem hatte es sich so furchtbar angehört! Es musste die Tonart gewesen sein, sicher, der Posaunenchor hier spielte nicht sein gewohntes C-Dur, wie hatte er nur so naiv sein können, nicht an die Tonarten zu denken ... In Panik fast, mit Tränen in den Augen, riss er den Feldstecher hoch, bereit, seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu sehen: sie würden zusammenpacken, sie würden nicht weiterspielen, weil er, der Fremde, ihre Harmonie gestört hatte am Weihnachtstag ... Da standen sie umeinander geschart und berieten sich, einer schüttelte den Kopf, ein anderer gab etwas herum, und dann stellten sie sich wieder auf, im Halbkreis wie vorhin, und begannen erneut.

Und diesmal hörte er es, hörte es wie vor sechzig Jahren, den aufsteigenden Dreiklang, C – E – G jetzt, schönstes, strahlendstes C-dur, Wachet auf, aber er war ja schon wach, hellwach, und er hob die Posaune und spielte, und die Oberstimme flog klar und triumphierend in den Winterhimmel hinauf.

 

©Isabell Pfeiffer

 

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